Mündlichkeit – Bildlichkeit – Schriftlichkeit

Dass die Vorstellung von einer primär durch die Mündlichkeit bestimmten mittelalterlichen Gesellschaft bzw. von einer mehr oder weniger strengen Dichotomie von Mündlichkeit / Schriftlichkeit bezüglich der mittelalterlichen Kultur zu kurz greift, wird dank der jüngeren mediävistischen Forschung immer klarer. Ohne Zweifel ist etwa von einer Präsenz oraler Kultur bei literaten Kulturträgern und von einer vermittelten Schriftlichkeit bei illiteraten Schichten auszugehen

Doch auch in diesem Fall wird das Paar Mündlichkeit / Schriftlichkeit der Komplexität der kulturellen medialen Interferenzen kaum gerecht. Der mittelalterliche Mensch ist nicht nur ein sprechender und hörender, sondern auch ein sehender und fühlender Mensch. Die mittelalterliche Kultur ist somit gerade auch eine eminent multimediale, die sämtliche Sinne des Menschen anspricht. Insbesondere ist hier auf die Bildlichkeit hinzuweisen, die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine vermittelnde Rolle einzunehmen vermag: Da sich das Sehen sowohl äußerlich auf visuelle Reize wie Dinge oder Bilder bezieht, als auch innerlich auf Vorstellung und Erinnerung beruhen kann, ist Bildlichkeit sowohl im Bildmedium selbst (gemaltes Bild) wie auch in der mündlichen Rede und im schriftlichen Text (Bildhaftigkeit der Rede, Metapher, Allegorie, Exempel usw.) präsent, wie auch umgekehrt narrative Schemata, Motive und Themen der mündlichen und schriftlichen Kultur Eingang in das gemalte Bild finden. Nicht umsonst wird denn auch der Akt des Lesens, der ja auch auf der Visualität beruht, auf das verstehende Rezipieren von Bildern übertragen.

Das Genfer Teilprojekt möchte sich diesen Phänomenen der Interferenz und Interdependenz der Medien bewusst inter- und transdisziplinär sowie zweisprachig (dt./frz.) nähern. Dazu bietet sich die fakultätsübergreifende Struktur der „Groupe d’étude médiévale“ der Universität Genf an, die unter Federführung des Lehrstuhls für germanistische Mediävistik in das Projekt involviert werden soll. Geplant sind für die ersten vier Jahre der Laufzeit mindestens eine öffentliche Ringvorlesung zum Thema und ein wissenschaftliches Colloquium.

Ein Schwerpunkt und Prüfstein soll dabei zunächst die mittelalterliche Predigt bilden, mit ihren medienbedingten Problemen der Authentizität (Verschriftlichung mündlicher Predigten, Verlesen schriftlicher?), des Einsatzes konzeptioneller Mündlichkeit in schriftlichen Muster- und Lesepredigten sowie der Rolle des Bildes (konkret oder als Metapher, Allegorie, Exempel) beim „Begreifen“ und Assimilieren des Predigtinhaltes bei der mystischen und nichtmystischen Predigt. Das Projekt schlägt vor, die bedeutendste Predigtsammlung des 14. Jahrhunderts im Bereich der heutigen Schweiz als Untersuchungskorpus heranzuziehen: die um die Mitte des 14. Jahrhunderts zu datierenden 'Engelberger Predigten', die – obwohl sie in jeder Literaturgeschichte des Spätmittelalters mehr oder weniger ausführlich gewürdigt werden – mit Ausnahme von vereinzelten Predigten noch nicht ediert vorliegen. Es wird deshalb zunächst ihre Erschließung durch eine Edition sowie eine Kommentierung und Untersuchung ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte angestrebt. Dieser Teil des Projektes wird in Kooperation mit der Universität Freiburg i. Br. (Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer) in Angriff genommen.

 

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